True Crime: Warum faszinieren wahre Verbrechen? (2025)

Wahre Verbrechergeschichten führen regelmässig die Ranglisten der Podcasts und Serien an. Was sagt das über uns und unsere Zeit?

Antje Joel (Text), Anthony Eslick (Illustration)

7 min

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True Crime: Warum faszinieren wahre Verbrechen? (1)

An einem Januartag 1999 verlässt Hae Min Lee, 18 Jahre alt, ihr Elternhaus in Baltimore, um zur Schule zu gehen. Sie kehrt nicht zurück. Ein paar Wochen später findet ein Mann ihre Leiche in einem Park hinter einem Baum. Er sei zum Pinkeln aus seinem Wagen gestiegen und ein Stück in den Wald gegangen, erzählt er der Polizei. Hae Min Lees Ex-Freund, Adnan Syed, steht schnell im Verdacht, sie ermordet zu haben. Beide sind Kinder von Einwanderern, Syed ist der Sohn pakistanischer Eltern, Lee koreanischer Herkunft. Sie hatten ihre Beziehung vor ihren Familien geheimgehalten.

Ein Bekannter behauptet, Syed habe ihm den Mord gestanden. Gemeinsam hätten sie die Leiche im Park begraben. Syeds Motiv, laut Polizei und Staatsanwaltschaft: Wut, dass Lee Schluss gemacht hatte, kombiniert mit dem Stress der Lügerei. Syed bestreitet die Tat, trotz Ungereimtheiten wird er zu lebenslanger Haft verurteilt. Ist er Opfer eines Justizirrtums?

Das ist, kurzgefasst, der Inhalt der ersten Staffel von Serial, dem laut Apple «grössten Podcast aller Zeiten». Geschrieben und präsentiert von der Journalistin Sarah Koenig und veröffentlicht am 3. Oktober 2014, wurde ­Serial über Nacht zum Hit mit «über fünf Millionen Downloads in der kürzesten je gemessenen Zeitspanne». 2016, ein Jahr nachdem die letzte Folge ausgestrahlt worden war, hatte Serial es auf 80 Millionen Downloads gebracht, 2017 waren es 175 Millionen.

Wir haben eine seltsame Beziehung zu Verbrechen und jenen, die sie verüben. Entführung, Raub, Mord. Je blutiger der Coup, je genialer oder gestörter die Gangster, umso faszinierter von beiden sind wir. Serials Erfolg und unsere wachsende Obsession für Modern True Crime sind der jüngste Beweis. Das Genre hat sich innert weniger Jahre zu einem Milliardengeschäft entwickelt.

Auf Netflix schaffen es Dokumentationen wie «Making a Murderer» oder «Ted Bundy: Selbstporträt eines Serienmörders» regelmässig auf den ersten Platz, und sie halten diese Position wochenlang. Die erste Crime Convention (CrimeCon) 2017 in Indianapolis, Indiana, laut Eigenwerbung «eine immersive, mehrtägige Veranstaltung, die sich ganz dem Thema wahre Kriminalität und Rätsel widmet», hatte 800 Teilnehmer. 2023 kamen zur CrimeCon in Orlando, Florida, 5000 Besucher. Sie kauften dort T-Shirts, bedruckt mit einer Liste bekannter Serienmörder: «BUNDY GACY BERKOWITZ DAHMER». «Angesichts der Faszination, die wir Serienmördern entgegenbringen, ist es ein Wunder, dass es nicht viel mehr von ihnen gibt», bemerkte der Kriminologe Elliott Leyton.

Das Publikum will Interaktivität

Podcasting ist eines der einflussreichsten Medien für die Verbreitung von True Crime. 2014 wurden in den USA zusammen mit Serial die ersten acht True-Crime-Podcasts veröffentlicht, heute gibt es weltweit Tausende dieser Programme, und jeden Monat kommen neue dazu. Sie sind zum Bestandteil unserer Medienkultur geworden. Auf «Chartable», der weltweiten Hitliste aller Podcasts, belegten sie diesen Sommer den ersten Platz («Crime Junkie») sowie den dritten («Dateline»), vierten («Morbid») und zehnten («My favourite Murder»).

«Der Erfolg von Podcasts und True Crime hat sich abhängig voneinander entwickelt», schreiben die dänischen Medienforscherinnen Line Seistrup Clausen und Stine Ausum Sikjaer. Das Medium und das Genre haben ihre Möglichkeiten gegenseitig erweitert und es so gemeinsam vom Nischen- zum Mainstreamprodukt geschafft. Über Streaming und Smartphones sind Podcasts jederzeit abrufbar. True-Crime-Süchtige können sich rund um die Uhr mit Stoff über Vermisstenfälle, Morde, Cold Cases und Justizirrtümer versorgen.

Der Ton in Serial ist kumpelhaft, als sei man Mitglied eines handverlesenen Freundeskreises, mit dem die Autorin das Verbrechen und die Ermittlungen diskutiert. Die scheinbare Intimität ist entscheidend. Sie gibt den Zuhörern das Gefühl, geschätzte Partner bei den «Ermittlungen» zu sein, als seien ihre Gedanken und Gefühle wichtig. Als die Journalistin Koenig den mutmasslichen Täter Syed am Telefon zu einem möglichen Motiv befragt, antwortet er: «Alles, was ich ­sagen kann, ist, ich hatte keinen Grund, sie zu töten.» Koenig wendet sich an ihre Hörer: «Darin ist er hartnäckig, standhaft. Das hört ihr – oder?» Sie bittet ihre Zuhörer immer wieder um ihre Meinung und «Rat».

Die Technik bedient meisterhaft die Bedürfnisse des modernen Publikums. Den Wunsch nach Interaktivität. True-Crime-Fans reicht es nicht, jedes schaurige Detail zu hören, zu lesen oder es in Nachstellungen zu sehen. Sie wollen die Verbrechen lösen, Vermisste finden, Mörder überführen. Und sollten Real-Life-Ermittler ihnen bei der Überführung zuvorgekommen sein, dann wollen sie die mörderische Seele wenigstens fachkundig analysieren. Dauer-Bestseller auf der CrimeCon sind ­T-Shirts mit dem Aufdruck «Genaugenommen bin ich ein Kommissar».

Der erste True-Crime-Fall: Kain und Abel

Das True-Crime-Genre ist Jahrtausende alt. Die Bibel beschreibt das erste «wahre Verbrechen»: Kain ermordet seinen Bruder Abel und versucht, die Tat zu vertuschen. Wie in jeder modernen True Crime Story wird im Verlauf der Geschichte «das Motiv gefunden, das Verbrechen gelöst und der Täter verurteilt – mit Gott als erstem Mordkommissar», schreibt der US-Medienforscher Ian Punnett.

Die alten Griechen spielten wahre Verbrechen als Dramen auf der Bühne nach. Im 15. Jahrhundert kamen mit dem gedruckten Wort die ersten Verbrechensberichte auf. Im 16. und 17. Jahrhundert erfreute sich das Publikum mit Gerichts-Pamphleten und Hinrichtungen. Die Predigten, die bei den Exekutionen gehalten wurden, versuchten, den Geisteszustand des Verurteilten zu analysieren.

Die Veröffentlichung von Truman Capotes «Kaltblütig» 1966, einem «wahren Roman» über den Mord an den vier Mitgliedern der Familie Clutter im Städtchen Holcomb in Kansas, gilt als die Geburtsstunde des Modern True Crime. In seinem Verlangen, Tat und Täter zu verstehen, kehrte Capote immer wieder an den Ort des Verbrechens zurück. Er ging eine enge Verbindung zu den beiden Mördern ein. So eng, dass er sich, als ihre Hinrichtung immer wieder verschoben wurde, in einem Dilemma fand: Er hatte ihnen Freundschaft vorgegaukelt, empfand womöglich echte Empathie. Doch um sein Buch abschliessen zu können, brauchte er ihr Ende am Galgen.

Kritiker werfen Capote vor, Fakten mit Phantastischem aufgemotzt zu haben: gekünstelte Szenen, erdachte Dialoge. Dem Erfolg des Buches und schliesslich des Genres tat das keinen Abbruch. Der einzigartige Erzählstil – wahre Ereignisse als belletristischer Reisser verpackt – trägt massgeblich zum Erfolg von True Crime bei.

Der Name des Genres verspricht Wahrhaftigkeit. Tatsächlich hat es mehr mit Märchen gemein. «Beide Genres haben die Aufgabe, Menschen beizubringen wie sie sich schützen können – indem sie sie anweisen, von wem sie sich fernhalten sollten», schreibt Medienforscher Punnett. «Bleib sexy und lass dich nicht ermorden!» ist das Motto von «My favourite murder», einem der beliebtesten Crime-Podcasts. Klügstenfalls, so lernen wir, sind wir jederzeit und vor jedermann auf der Hut.

Die Anhänger des Genres seien überdurchschnittlich ängstlich und unsicher, sagen Forscher. Sie sähen die Welt eher als gefährlichen Ort. Sie fürchteten Unbekannte eher als Bedrohung. True Crime schafft den Spagat, seine Kunden gewinnbringend in der Sorge um ihre Sicherheit zu bestätigen. Und gleichzeitig ebenso profitabel ihr Vertrauen in Recht und Ordnung zu bestärken – wenn auch jeweils nur kurzfristig.

Die übergreifende Botschaft ist: Wir sind jederzeit bedroht von Verbrechern. Aber am Ende werden die Unholde geschnappt. Und wenn unser Drang nach Vergeltung mal den Falschen trifft, ist das ein bedauerlicher Einzelfall. Keinesfalls liegt es an uns, unserem Vergeltungswunsch. Oder an einer fehlbaren Justiz, die auf unseren Vorstellungen von echten Verbrechern und jenem Drang nach Vergeltung basiert.

Wer hat unser Mitgefühl verdient?

Die Möglichkeit eines Justizirrtums an Adnan Syed ist zwar die Basis für Serial. Doch geht die Autorin nie so weit, seinen Unschuldsbeteuerungen zu trauen. Vielmehr lebt die Erzählung von ihren Zweifeln. Von ihrer und unserer Unsicherheit, ob der so freundliche und vernünftige Syed nicht doch ein «Monster» sei. Diese Unsicherheit ist einer der Haken, an die Koenig ihr Publikum von der ersten Episode an hängt: «Er hat riesige braune Augen wie eine Milchkuh. Und ich denke, blöderweise: Kann jemand, der so aussieht, wirklich seine Freundin erwürgen? Idiotisch, ich weiss.»

Unser Begriff von Verbrechen ist wandelbar, wie auch die Vorstellung von seinen Ursachen. Zeitweise hielten Forscher eher die Gene für verantwortlich, dann eher die Erziehung, dann eine Mischung aus beiden. Das True-Crime-Genre reflektiert solche Veränderungen. Es kann unser Verständnis von Verbrechen verbessern. Öfter bestätigt es uns in unseren falschen Vorstellungen und in unseren Vorurteilen.

Darf man der Auswahl der Fälle glauben, sind Frauen in der Mordopfer-Überzahl – und überraschend oft Täterinnen. Tatsächlich jedoch sind 80 Prozent der Mordopfer Männer und auch 90 Prozent aller Täter. Während in den USA schwarze Männer weit häufiger Tötungsdelikten zum Opfer fallen als weisse Männer– und erst recht häufiger als weisse Frauen –, werden sie seltener und mit weniger Empathie dargestellt als weisse Mordopfer. Einzelfälle vermisster weisser Frauen erfahren grosse Aufmerksamkeit. Die andauernde Epidemie der vermissten und ermordeten Ureinwohnerinnen dagegen kommt in den «wahren» Geschichten kaum je vor. True Crime erzählt nicht nur von wahren Verbrechen, es weist uns auch an, welche Opfer unsere Sympathie verdienen. Und welche nicht.

Im September 2022, nach 23 Jahren Haft, wurde Adnan Syed auf Antrag der Staatsanwaltschaft wegen Zweifeln an Beweisen und mutmasslicher Rechtsverstösse der Ankläger aus dem Gefängnis entlassen. Eine längst überfällige Entscheidung, urteilte die ehemals clever unentschiedene Serial-Autorin Sarah Koenig.

Hae Min Lees Angehörige haben gegen Syeds Entlassung Beschwerde eingelegt.

True Crime verwandelt Schicksale in Unterhaltung. Unsere Faszination für wahre Verbrechen ist endlos. Solange wir ihnen nicht auf die eine oder andere Art zum Opfer fallen.

Antje Joel ist Autorin und Dozentin für Kriminologie und Strafjustiz; sie lebt in Irland. Im März erschien ihr Buch «Kriminell? Die dunkle Seite der Innovation».

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Author: Horacio Brakus JD

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