«Frauen konsumieren den Thrill anders als Männer» – ein Psychiater zum True-Crime-Boom (2024)

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«Dahmer» kam im September 2022 auf Netflix heraus. Zwei Wochen später folgte eine Dokumentation über den Serienmörder. Bild: Shutterstock

Interview

«Dahmer», «I Am A Killer», «Night Stalker», «Making a Murderer», «Unsolved Mysteries» – True-Crime-Serien gibt es bei Netflix wie Sand am Meer. Doch warum fasziniert dieses Genre so sehr? Ein Psychiater erklärt.

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Corina Mühle

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Mehr «Leben»

«Hier lebe ich, hier existiere ich. Nichts ist für mich von Bedeutung. Ich bin, wer ich bin – ein Mörder», sagt Gary Black, ein Protagonist in der vierten Staffel von «I Am A Killer», die seit Ende Dezember auf Netflix läuft.

Black wird im Rollstuhl in den Interview-Raum geschoben, seine Hände liegen in angeketteten Handschellen in seinem Schoss. Er beginnt von dem Ereignis zu erzählen, weswegen er seit 1998 in Missouri hinter Gitter sitzt.

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Gary Black in der vierten Staffel von «I Am A Killer».Bild: netflix

Wie auch die Staffeln zuvor und etliche andere Dokumentationen über wahre Verbrechen schaffte es «I Am A Killer» auf Platz 1 der Netflix-Charts. Netflix widmet dem True-Crime-Genre eine eigene Themenseite, auf der man gefühlt unendlich scrollen kann, so gross ist das Angebot.

Auch Podcasts sind hoch im Kurs. Während 2017 drei neue Podcast-Formate zu wahren Verbrechen auf Spotify und iTunes herauskamen, waren es 2022 laut der Süddeutschen Zeitung 120.

Doch warum fasziniert dieses Genre so sehr? Das weiss Dr. med. Steffen Lau, Chefarzt und Stv. Klinikdirektor für forensische Psychiatrie in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Im Interview mit watson spricht er von der sogenannten Angst-Lust. Dies beschreibt die Gefühlslage, aus einer Angstsituation Lust zu empfinden.

Warum schauen Frauen mehr True Crime als Männer?

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Dr. med. Steffen Lau weiss, warum True Crime so fasziniert.Bild: zvg

watson: Warum fasziniert True Crime?
Dr. med. Steffen Lau: True Crime hat einen ähnlichen Effekt wie Horror, nämlich die sogenannte Angst-Lust. Das Böse ist überall, und auch wenn man sich das im sicheren Zuhause ansieht, hat man das Gefühl, nicht zu 100% sicher zu sein.
Hinzu kommt die Faszination, dass es «ganz nah» etwas gibt, das zutiefst abgründig ist.

War True Crime schon immer ein kulturelles Phänomen oder ist es ein neuer Trend?
Dass sich die Menschheit für Verbrechen interessiert, ist eine altbekannte Tatsache. Kriminalreportagen gibt es, seitdem es Zeitungen gibt. Wir kennen aus dem Fernsehen schon ganz früh diese Suchsendung von der Polizei, «Aktenzeichen XY» (läuft seit 1967 auf ZDF). Das Genre gibt es also schon ganz lange.

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Rudi Cerne moderiert seit 20 Jahren die deutsche True-Crime-Sendung «Aktenzeichen XY».

Hat die Etablierung von Streaming-Diensten die Flamme angefacht?
Während wir früher darauf warten mussten, dass einmal im Monat am Abend eine Sendung kam, sind heutzutage Medien anders verfügbar und ist der Konsum selbst steuerbar. Die Nachfrage nach True Crime wurde durch die höhere Konsummöglichkeit angefacht, nicht durch die Anzahl an Dokumentationen.

«Wenn ich einmal ein Abo gekauft habe, gucke ich, was ich sonst ‹umsonst› herunterladen kann.»

Auch Podcasts in diesem Genre sind immer beliebter geworden. Wie haben sie zu diesem Genre beigetragen?
Es ging mit Büchern los, dann kamen die Zeitungen und jetzt leben wir in der Welt der digitalen Medien. Deswegen glaube ich, dass hier bedient wird, was Leute früher an anderen Stellen auch schon (aber anders) konsumiert haben. Der Konsum ist leichter geworden. Beim Streaming ist es halt so, dass wenn ich einmal ein Abo gekauft habe, gucke ich eben auch alles, was ich «umsonst» herunterladen kann.

Es macht den Eindruck, dass Frauen mehr True-Crime-Medien konsumieren als Männer.
Das scheint wirklich so zu sein.

Woran liegt das?
Ich habe dafür keine wirkliche Erklärung. Möglicherweise, weil man so dem Ganzen recht nahekommt, ohne selbst involviert zu sein? Männer holen sich den Thrill anders als Frauen, direkter und risikoreicher, zum Beispiel als Zuschauer bei einem Boxkampf oder im Stadion, wo die Emotionen auch Rangeleien begünstigen. Frauen konsumieren den Thrill wohl lieber in Sicherheit.

Welche negativen Effekte hat es, wenn kriminellen Personen eine Plattform geboten wird?
Ein Teil von Straftätern findet das in Ordnung, dass sie straffällig und gewalttätig sind, und denen eine Bühne zu bieten, befeuert deren Narzissmus.

Könnte es zu Nachahme-Täter kommen?
Das ist bei einem abstrakten Format wie bei einem Podcast wahrscheinlich nicht gegeben. Solche Dokumentationen verführen Leute nicht dazu, ähnliche Straftaten zu begehen. Da glaube ich, dass die freie Verfügbarkeit von Gewaltvideos viel problematischer ist, als wenn man sich hinsetzt und einen Podcast hört.

Video: watson/Aya Baalbaki

Wie steht es mit Gewalt-Darstellungen in Netflix-Dokumentationen?
Da ist es so ähnlich. Wenn die Dokumentation gut gemacht ist, trägt sie in erster Linie zur Aufklärung bei.

Welche negativen Auswirkungen haben True-Crime-Dokumentationen auf die Zuschauenden?
Sie können ehemalige Betroffene retraumatisieren. Viele Dokus sind heutzutage aber mit Triggerwarnungen versehen, um das zu verhindern.

«Wenn die Dokus gut gemacht sind, führen sie zu mehr Verständnis und weniger Vorurteile, ohne die Taten zu entschuldigen.»

Und positive Auswirkungen?
Wenn sie gut gemacht sind, tragen sie zu Verständnis und weniger Vorurteile gegenüber den Tätern bei, ohne die Taten zu entschuldigen. Hier müssen sich die Produzenten aber dazu verpflichtet fühlen, auch aufklären zu wollen und nicht nur Quote machen zu wollen.

Macht es für die Zuschauenden einen Unterschied, zu wissen, dass es sich um wahre Verbrechen handelt und nicht um eine erfundene in einem Krimi?
Wenn ich einen Krimi sehe, dann kann ich mich sehr leicht distanzieren und sagen, dass das ja alles nur Kunstblut ist. Diese Distanzierung passiert bei True Crime nicht. Das Ganze rückt näher und macht diesen besonderen Kick von Angst-Lust aus, weil die Wahrscheinlichkeit, dass mir etwas passieren könnte, deutlicher ist. Und eventuell macht es einen besonderen Reiz aus, dass man nochmals davongekommen ist.

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21 spannende True-Crime-Dokus, die du auf Netflix findest

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quelle: netflix

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Video: watson

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