Entwicklungen, Tendenzen und Narration von True Crime (2024)

Artikel

Perspektiven auf Verbrechen 1

Jan Harms

Medienradar, 11/2021

Das Genre True Crime ist heute sehr beliebt und wird unterschiedlich rezipiert. Um ein neues Phänomen handelt es sich dabei aber nicht. Denn Erzählungen von Verbrechen können auf eine lange Historie zurückblicken. Der erste Teil des Beitrags gibt einen Überblick über die Entwicklung von True Crime und die verschiedenen Erzählperspektiven dieses Formats.

Artikel als:

Artikel als:

Verbrechen, so eine kulturwissenschaftliche These, stellen eine Verletzung sozialer Ordnung dar und Gesellschaften müssen einen Weg finden, Taten und Täter:innen zurück in diese Ordnung zu überführen– symbolisch kann dies auch durch Erzählungen geschehen.

Deshalb finden sich Erzählungen von Verbrechen wohl schon ab dem Moment, seitdem überhaupt erzählt wird. In der frühen Neuzeit werden sie erstmals „massenmedial“ verbreitet: in Flugblättern wird neben Naturkatastrophen und vermeintlichen Wundern regelmäßig über Verbrechen berichtet– oftmals über besonders grausame und aufsehenerregende Taten. Ein Bezug auf übernatürliche Aspekte ist für Schilderungen in dieser Zeit geläufig, bis in das 17.und 18.Jahrhundert dominiert eine religiöse Perspektive (Jean Murley2008, S.6–13).

Entwicklungen, Tendenzen und Narration von True Crime (1)

Wesentlicher Motor für die Verbreitung von Erzählungen über Verbrechen bleiben bis in das 19.Jahrhundert neue Drucktechnologien. Zeitungen berichten von aufsehenerregenden Ereignissen, wobei oft spektakuläre Straftaten im Zentrum stehen. Die religiös orientierten Moralisierungen mischen sich in dieser Zeit zunehmend mit reißerischem Sensationalismus (David Schmid2010, S.199f.), Verbrechen werden oft als irrationale Monstrosität beschrieben– eine Tendenz, die für True Crime bis heute zu beobachten ist.

Gegenläufig dazu bildet sich in den Reportagen des ausgehenden 19. und frühen 20.Jahrhunderts eine andere Perspektive heraus: biografische Details aus dem Leben von Täter:innen werden als psychologische Ursache für ihre Taten herangezogen. Rational-orientierte, kriminologische, medizinische und psychiatrische Erklärungen erlangen zunehmend die Oberhand. Die Idee der wissenschaftlichen Rekonstruktion schlägt sich auch in der Erzählweise nieder: immer detailliertere Schilderungen des Verbrechens werden vorgebracht, die sich dem Geschehenen vermeintlich objektiv nähern (Jean Murley2008, S.6–13).

In den 1920er-Jahren etabliert sich schließlich das Label „True Crime“ fest in der amerikanischen Populärkultur. Es erscheinen vermehrt Pulp-Magazine, wie etwa seit 1924 das True Detective Magazine. Die Schilderungen und die Ästhetik in den Magazinen sind maßgeblich von den Konventionen zeitgenössischer Noir-Narrative beeinflusst (Jean Murley2008, S.6–13).

Kaum ein Text über die Entwicklung von True Crime kommt ohne den Verweis auf Truman Capotes Tatsachenroman In Cold Blood aus, der tatsächlich viele neue Konventionen prägt. Anders als vorherige, kurze Berichte widmet sich Capote einem einzelnen Fall– dem brutalen Raubmord an einer Familie– nun auf über 300 Seiten und damit ausgesprochen detailliert. Trotz seiner intensiven Recherche und dem Anspruch auf einen objektiven Blick brachte das Buch ihm Vorwürfe ein, keine „reinen Fakten“ zu präsentieren, insbesondere weil er immer wieder Gespräche schilderte, die er nicht kennen konnte. Der Literaturwissenschaftler David Schmid sieht eine Verschiebung der Bedeutung des Wortes true, das sich bei Capote nicht so sehr auf „harte Fakten“ bezieht, sondern eher für eine „emotionale Wahrheit“ (David Schmid2010, S.199f.) steht. Fiktionalisierte Elemente werden eingebaut, um die Fakten „zu verstärken“.

In Cold Blood legt den Grundstein für eine Welle von True-Crime-Büchern, die die 1970er-, 80er- und 90er-Jahre dominieren. So erscheint 1974 das äußerst populäre Helter Skelter des Staatsanwalts Vincent Bugliosis über die Manson-Morde. 1980 veröffentlicht die Journalistin Ann Rule mit The Stranger Beside Me einen biografischen wie autobiografischen Bericht über den Serienmörder Ted Bundy, mit dem sie– ohne von dessen Taten zu wissen– auch persönlich bekannt war. Robert Graysmiths Zodiac von 1986 behandelt detailliert den bis heute ungelösten Fall des gleichnamigen Serienmörders.

In den 1980er-Jahren kommt es zu einer Konjunktur von True Crime. Die Kulturwissenschaftlerin Jean Murley sieht darin eine Reaktion auf die rapide steigenden Kriminalstatistiken (Jean Murley2017, S.290). Es etabliert sich ein populäres Wissen über Serientäter:innen, die oftmals als monströse Figuren außerhalb der Gesellschaft gezeichnet werden und sich narrativ in eine Rhetorik von Gut und Böse einfügen.

Der Rückgang von Gewaltverbrechen in den USA der 1990er- und 2000er-Jahren korrespondiert mit einer Wende weg von sensationellen Fällen hin zu eher alltäglichen Verbrechen (Jean Murley2017, S.290). Ende der 1980er- und im Verlauf der 90er-Jahre etablieren sich einige True-Crime-Fernsehformate, die sich zum Teil bis heute halten. Maßgeblichen Einfluss hatte die wöchentlich erscheinende Serie Unsolved Mysteries (1988–2002), die in jeder Episode in kurzen Segmenten mehrere Fälle vorstellt, wobei sich ungeklärte Verbrechen, spurlos verschwundene Personen und vermeintlich übernatürliche Phänomene nahtlos aneinanderreihen (Jean Murley2008, S.117f.).

Die Serie Unsolved Mysteries erweist sich stilprägend– vor allem im Hinblick auf ihre audio-visuellen Narrationsverfahren. Die konventionellen Nacherzählungen speisen sich aus einem Mix aus Reenactments und Interviews mit Polizist:innen, Zeug:innen oder Familienmitgliedern. Zudem werden Foto- oder Videoaufnahmen aus dem Archiv eingebunden, die vom Tatort stammen oder die Ermittlungsarbeit zeigen. Zusammengefügt werden diese unterschiedlichen Teile durch ein autoritatives Voiceover des Schauspielers Robert Stack.

Dieser Medieninhalt unterliegt besonderen rechtlichen Bestimmungen.

Um diesen Inhalt sehen zu können,
müssen Sie sich einloggen.

In den Jahren 2014 und 2015 treten schließlich neue Formate auf den Plan, die den aktuellen Boom auslösen. Wichtig ist hierfür ein bislang unerwähnt gebliebenes Medium, das sich bald fest mit True Crime verbinden wird: der Podcast. Mit der 12-teiligen Reihe Serial verankern sich sowohl der Podcast als auch True Crime fest in der Digitalkultur. Die Journalistin Sarah Koenig rekonstruiert hier den Fall der 1999 ermordeten Highschool-Schülerin Hae Min Lee und ihres Ex-Freundes Adnan Syed, der des Mordes schuldig gesprochen wird. Der Podcast zieht die Schuld Syeds in Zweifel.

Parallel findet eine Popularisierung von Streaminganbietern statt, insbesondere durch Netflix, das 2014 in Deutschland startet und mit Making a Murderer einen ersten großen Erfolg feiert. Die Dokuserie hat inhaltlich wesentliche Überschneidungen mit Serial: Sie behandelt die (Lebens-)Geschichte von Steven Avery, der– so legt die Serie nahe– nach einer ersten, zu Unrecht verbüßten Haftstrafe gleich ein zweites Mal fälschlich verurteilt wird.

Dieser Medieninhalt unterliegt besonderen rechtlichen Bestimmungen.

Um diesen Inhalt sehen zu können,
müssen Sie sich einloggen.

In der Gegenwart lässt sich eine mediale Trias aus Fernseh- und Streamingserien, Podcasts und Print konstatieren, in der die erwähnten Tendenzen des True Crime in ihrer Vielfalt parallel stattfinden.

So finden sich insbesondere auf Streamingplattformen immer wieder komplexe Erzählformate, die ähnlich wie Making a Murderer funktionieren, auch wenn neben diesen neueren Formen nach wie vor die Tendenzen der 1990er-Jahre zu finden sind– und diese quantitativ klar überwiegen. So wird beispielsweise die Serie Forensic Files 2020 wieder aufgelegt. Auch Cold Case Files und Unsolved Mysteries erhielten Wiederauflagen auf Netflix. Diese konventionellere Form dominiert auch das Angebot von Spartensendern wie RTL Crime, dessen Programm im Bereich „True Crime Highlights“ sich aus US- und UK-Importen sowie deutschen Produktionen zusammensetzt, etwa: Die Anwälte der Toten– Die schlimmsten Serienkiller der Welt, in der pro Folge ein:e Täter:in vorgestellt wird.

Dieser Medieninhalt unterliegt besonderen rechtlichen Bestimmungen.

Um diesen Inhalt sehen zu können,
müssen Sie sich einloggen.

Zum zweiten Teil des Beitrags:Rezeption und Kritik von True Crime – Perspektiven auf Verbrechen2

Artikel als:

Artikel als:

Quellennachweise

Literatur

Boling, Kelli S./ Kevin Hull: Undisclosed Information– Serial Is My Favorite Murder. Examining Motivations in the True Crime Podcast Audience. In: Journal of Radio & Audio Media 25 (2018), H.1, S.92–108.

Horeck, Tanya: Justice on Demand. True Crime in the Digital Streaming Era. Detroit2019.

Murley, Jean: The Rise of True Crime. Twentieth Century Murder and American Popular Culture. Santa Barbara2008.

Murley, Jean: Making Murderers. The Evolution of True Crime. In: Chris Raczkowski (Hrsg.): A History of American Crime Fiction. Cambridge2017, S.288–299.

Schmid, David: True Crime. In: Charles J. Rzepka/ Lee Horsley (Hrsg.): A Companion to Crime Fiction. Oxford2010, S.198–209.

Vicary, AmandaM./ R.Chris Fraley: Captured by True Crime. Why Are Women Drawn to Tales of Rape, Murder, and Serial Killers? In: Social Psychological and Personality Science1(2010), H.1, S.81–86.

Blogeinträge

Stokowski, Margarete:Boomendes Genre „True Crime“. Boulevard für Besserverdienende, in: Spiegel Online, 18.05.2021, https://www.spiegel.de/kultur/genre-true-crime-boulevard-fuer-besserverdienende-kolumne-a-e94399b0-72cc-4a58-bcd2-7fe0feeb5609 (abgerufen am 16.10.2021).

Autor

Jan Harms ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie assoziiertes Mitglied im Graduiertenkolleg Das Dokumentarische. Exzess und Entzug an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat in Köln Medienkulturwissenschaft und Kunstgeschichte studiert und arbeitet aktuell an seiner Dissertation zu Evidenz in seriellen True-Crime-Formaten.

Entwicklungen, Tendenzen und Narration von True Crime (2)

[Bild: privat]

Mehr von Jan Harms

Artikel

Rezeption und Kritik von True Crime

Perspektiven auf Verbrechen 2

Schlagwörter

TrueCrime, Reality-TV, DokumentarischeFormate, Fernsehen, Ängstigung

Hintergrundwissen zum Thema

ArtikelRezeption und Kritik von True Crime Perspektiven auf Verbrechen 2 Perspektiven auf Verbrechen 2 Jan Harms Medienradar, 11/2021 True Crime ist in verschiedensten Formen und Medien praktisch unausweichlich: Im Fernsehen, bei Streaminganbietern, aber auch in Podcasts und Zeitschriften ist die Beschäftigung mit realen Verbrechen derzeit...
ArtikelGafferkultur? Anmerkungen zum True-Crime-Boom Anmerkungen zum True-Crime-Boom Uwe Breitenborn In: tv diskurs: 25. Jg., 3/2021 (Ausgabe 97) „Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen!“ So mögen Kritiker des True-Crime-Hypes rufen. Mit moralischen Interventionen wird man diesem Hype kaum beikommen. Das ist auch nicht unbedingt nötig. Aber die teils schamlose...
ArtikelBewertung von True-Crime-Formaten durch Jugendliche Videos und Werkstattbericht zum Partizipationsprojekt True.Crime.Story Videos und Werkstattbericht zum Partizipationsprojekt True.Crime.Story JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen Projektverantwortliche: Lena Schmidt, Stoyan Radoslavov, Achim Lauber Das Projekt True.Crime.Story wurde von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen e. V. (FSF) beauftragt und vom Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis (JFF) umgesetzt. Im Rahmen von Forschungswerkstätten...
Feature„Aber trotzdem geht das ja irgendwie in mein Gehirn!“ Jugendliche sprechen über ihr Verhältnis zu Realityformaten Jugendliche sprechen über ihr Verhältnis zu Realityformaten Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen, Medienprojekt Wuppertal 09/2021 Das Projekt Medienbarometer stellt die Meinungen von Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren in den Mittelpunkt. Es geht um Inhalte auf allen Kanälen, um Vorlieben, Trends und Kritik, um Abgrenzungen zur Erwachsenenwelt,...

Mediensammlung zum Thema

PlaylistTrue Crime Welche Aspekte sind für den Jugendmedienschutz relevant?​ Welche Aspekte sind für den Jugendmedienschutz relevant?​ Brigitte Zeitlmann Medienradar, 11/2021 Das Genre True Crime boomt. Diepostume Dokumentation realer Verbrechen anhand von Originalaufnahmen, nachinszenierten Tathergängen und Interviewsequenzen mit Expert:innen,Angehörigen oder gar Täter:innenfindet eine...
PlaylistDie Vielfalt dokumentarischer Formen Überblick anhand von Beiträgen zu Klimawandel und Nachhaltigkeit Überblick anhand von Beiträgen zu Klimawandel und Nachhaltigkeit Christian Kitter, Dirk Uhlig Medienradar, 11/2021 Dokumentarische Formen in den Medien sind vielfältig. Heutzutage gibt es für dokumentarische Medienformate die unterschiedlichsten Produktions-, Distributions- und Rezeptionspraktiken. So kann darunter beispielsweise der...
Zahlen / FaktenZwischen Freizeit und Fake News – der Medienalltag von Jugendlichen Ergebnisse der JIM-Studie 2021 Ergebnisse der JIM-Studie 2021 JennyF. Schneider Medienradar, 12/2021 Jugendliche in der heutigen Zeit gelten als „Digital Natives“, also als Menschen, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind. Sie nutzen das Internet ganz selbstverständlich und intuitiv, denn eine Welt ohne Internet...
PlaylistWas ist eigentlich ängstigend? Ängstigung als Risikodimension im Jugendmedienschutz Ängstigung als Risikodimension im Jugendmedienschutz Brigitte Zeitlmann Medienradar, 07/2020 Das Gefühl der Angst kennt jede*r. Manche Ängste sind auf eine bestimmte Entwicklungsphase begrenzt, andere begleiten einen über einen längeren Zeitraum. Würde man Kinder von ängstigenden Inhalten fernhalten, so würde...

Lehrmaterial zum Thema

ErklärvideoWas ist eine Dokusoap? Anna Lena Diehl, Brigitte Zeitlmann Medienradar, 06/2021 Wo kommt der Name Dokusoap eigentlich her? Und was genau kennzeichnet dieses Format? In unserem Erklärvideo zeigen wir, welches Ziel Dokusoaps verfolgen, wonach Teilnehmer:innen ausgewählt und welche filmischen Mittel...
Aufgaben-SetReality-TV Anne-Marie Richter, Dr. Christian Richter CC BY-SA 4.0/Medienradar, 11/2021 Zielgruppe: Klasse 7/8, Klasse 9/10, Klasse 11/12Fächeranbindung: Arbeitslehre, Deutsch, Ethik, Kunst, Philosophie
Aufgaben-SetJugendmedienschutz Inhalte, Wirkungen und Risiken Inhalte, Wirkungen und Risiken Jana Höllmüller, Lennart Hesse-Sörnsen CC BY-SA 4.0/Medienradar, 10/2020 Zielgruppe: Klasse 7/8, Klasse 9/10, Klasse 11/12Fächeranbindung: Deutsch, Ethik, Politische Bildung, GeWi
Aufgaben-SetFür Diversität, gegen Diskriminierung Lennart Hesse-Sörnsen CC BY-SA 4.0/Medienradar, 11/2020 Zielgruppe: Klasse 7/8, Klasse 9/10, Klasse 11/12Fächeranbindung: Deutsch, Ethik, Politische Bildung, GeWi, Kunst
Entwicklungen, Tendenzen und Narration von True Crime (2024)
Top Articles
Latest Posts
Recommended Articles
Article information

Author: Kelle Weber

Last Updated:

Views: 6116

Rating: 4.2 / 5 (53 voted)

Reviews: 84% of readers found this page helpful

Author information

Name: Kelle Weber

Birthday: 2000-08-05

Address: 6796 Juan Square, Markfort, MN 58988

Phone: +8215934114615

Job: Hospitality Director

Hobby: tabletop games, Foreign language learning, Leather crafting, Horseback riding, Swimming, Knapping, Handball

Introduction: My name is Kelle Weber, I am a magnificent, enchanting, fair, joyous, light, determined, joyous person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.